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Predigt am Sonntag nach Ostern - 23. April 2017

Gottes Gnade und Friede sei mit euch allen! Amen.

Der Predigttext aus dem Johannesevangelium, Kapitel 20:

20,19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! 20,20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. 20,21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 20,22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den heiligen Geist! 20,23 Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

20,24 Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 20,25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben. 20,26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! 20,27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 20,28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 20,29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

Der ungläubige Thomas - so nennen wir ihn, und so heißt er in der christlichen Tradition. Der ungläubige Thomas - das ist nicht gerade ein Adelstitel. Der Apostel Thomas schleppt es bis heute mit sich herum, dieses Prädikat: Ungläubig. Von dieser einen Begebenheit her. Dabei ist er am Ende dieser Begebenheit überzeugt, gläubig. „Mein Herr und mein Gott“, sagt er zu Jesus; ein starkes Bekenntnis. Aber: Wir nennen ihn bis heute den Ungläubigen. So ist das. So sind wir Menschen. Hat einer erst mal seinen Ruf weg, dann wird er ihn meist nie wieder los. Er kriegt es ewig nachgetragen!

Der arme Thomas: Er musste vielleicht schon von Kindheit an darunter leiden, dass andere sich immer so ein gewisses Bild von ihm machten. Er hatte nämlich eine Besonderheit: Er war Zwillingsbruder. Und musste vielleicht schon als Kind darum kämpfen, dass er als ein besonderer, einzigartiger Mensch anerkannt wurde, dass die anderen ihn nicht in eine Schablone pressten, dass sie von ihm nicht dasselbe erwarteten wie von seinem Bruder, dass sie ihn endlich mit dem richtigen Namen ansprechen würden. So hat er sich abgekämpft, hat sich bemüht darum, ein besonderer, unverwechselbarer Mensch zu werden. Nicht mehr immer die gleichen Kleider tragen zu müssen wie der Bruder neben ihm.

Es passt zu ihm, dass er den anderen Jüngern nicht glaubt, als sie ihm von der Auferstehung Jesu berichten. Er war ja nicht dabei; und er würde niemals einfach das glauben, was die anderen erzählen! So ist er auch an Ostern ein Individualist geblieben. Ausgerechnet da passiert es wieder: Er bekommt seinen Ruf weg: der Ungläubige! Bloß, weil er nicht glauben konnte; bloß weil er sich erlaubte, nachzuhaken!

Ich möchte heute gegen diesen schlechten Ruf des Apostels Thomas anreden. Denn der hat ihn nicht verdient. Jesus hat zwei seiner wichtigsten Sätze gesagt nur deshalb, weil Thomas, der Querkopf, nachbohrte. Jesus hat zwei seiner wichtigsten Sätze gesagt, nur weil Thomas nicht unhinterfragt einfach die Meinung anderer akzeptierte.

Einmal da fragte Thomas: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir dann den Weg wissen?“ Jesus hatte vorher in Rätseln von seinem Tod gesprochen. Und keiner hatte verstanden, was er da eigentlich sagte: „Ich gehe zu meinem Vater, um euch die Stätte zu bereiten.“ Die Jünger verstanden nur Bahnhof. Sie dachten ja gar nicht daran, dass Jesus die Konfrontation in Jerusalem suchen würde, dass er es darauf anlegen würde, durch den gewaltsamen Tod am Kreuz sich von dieser Welt wieder zu verabschieden und zu Gott zurückzukehren. Das war nicht in ihrem Blickfeld. Sie glaubten doch: Er ist der Messias, der Retter, der Erlöser. Jetzt wird alles anders, mit ihm.

Nur einer, Thomas, nur der hat den Mut, das Unverständnis offen auszusprechen: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir da den Weg wissen?“ Die anderen haben wahrscheinlich ehrfürchtig geschwiegen vor den Worten des Meisters. Dieses ehrfurchtsvolle Schweigen, wo es unangebracht ist, wo man hinterher genau so schlau ist wie vorher, weil man eben genau nichts versteht, aber man traut sich nicht, zu fragen, weil es die Ehrfurcht verbietet. Thomas kennt diese Scheu nicht. Er ist bereit, auch einmal in ein Fettnäpfchen zu treten. Er macht den Mund auf. Sagt‘s, wie er‘s denkt. Wahrscheinlich haben alle um ihn herum erst mal geschluckt: Wie kann der nur? Jesus hinterfragen? Jesus hatte doch gesagt: „Den Weg, wohin ich gehe, den kennt ihr.“ Und Thomas widerspricht ihm geradeheraus: Nein, Herr, den Weg kennen wir nicht.

Ich bin Thomas unendlich dankbar für diese kritische Frage, für dieses offene Eingeständnis der Unkenntnis, was andere ihm wahrscheinlich als mangelnde Aufmerksamkeit auslegen würden. Ich bin ihm unendlich dankbar für diese Frage, denn Jesus antwortete darauf mit einem der wichtigsten Sätze des Evangeliums. und sie haben ihn alle schon einmal gehört: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Nur weil Thomas nachgebohrt hat! Nur weil der nicht ehrfurchtsvoll geschwiegen hat, sondern es Jesus direkt gesagt hat: Jesus, ich verstehe nur Bahnhof! Und dann diese Antwort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, außer durch mich.“ Offener als je zuvor spricht Jesus aus, dass es neben ihm keinen anderen Weg zu Gott gibt. In wünschenswerter Klarheit breitet er seinen Absolutheitsanspruch aus, so nennen wir das modern. Weil Thomas ihn durch sein Nachfragen dazu gebracht hatte, Farbe zu bekennen.

Solche Menschen wie Thomas sind Jesus sympathisch. Kein Tadel, keine Rüge. Einfach nur dieser eine Satz, der im Grunde keine Frage mehr offen lässt: Jesus ist der einzige Weg zum Vater, zu Gott. Einen anderen gibt es nicht. Jesus zeigt nicht einen Weg - er ist der Weg. Nur durch ihn kommt ihr ans Ziel, zum himmlischen Vater.

Zu oft wird im Namen der Religion ehrfurchtsvoll geschwiegen. Sie ist kein Thema mehr, weil alle einfach nur ehrfurchtsvoll schweigen. Weil man sagt: Genauere Nachfrage hat eh keinen Sinn, Religion ist was fürs Gefühl, darüber spricht man nicht, soll jeder nach seiner eigenen Facon selig werden. Und so schweigen alle ehrfurchtsvoll. Religion als Gesprächsthema? Fehlanzeige.

Die Kirche hat eine Menge dazu beigetragen, dass es so weit gekommen ist. Weil sie über Jahrhunderte mit solchen Fragern wie dem heiligen Thomas so umgegangen ist, dass sie ihnen den Mund verboten hat, sie mundtot gemacht hat. Weil sie es nicht zuließ, dass Menschen nachfragten. Und weil sie vor allem vielen Fragenden die Antworten schuldig blieb. Schon die Kinder wurden zu ehrfurchtsvollem Schweigen verdonnert, anstatt dass man ihnen den Glauben vernünftig darlegte.

Jesus ließ Thomas gewähren. Er war ihm kein bisschen böse. Jesus geht auf diesen Individualisten Thomas ein. Auch an Ostern, auch nach seiner Auferstehung: Er begegnet Thomas eigens noch einmal: „Komm her, berühre mich, meine Wunden, damit du glaubst, dass ich es bin!“ Das ist die andere Begebenheit, wo wir Thomas einen ganz wichtigen Satz von Jesus verdanken. Jesus sagte zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Dieser unendlich wichtige Satz, der es so deutlich ausspricht, dass es beim Glauben nicht auf das Sehen, sondern eben auf das Glauben ankommt, dass es zwischen Himmel und Erde viele Dinge gibt, die wir nicht sehen können und die dennoch real sind, dass wir uns etwas vormachen, wenn wir uns nur auf das Sichtbare, Irdische verlassen, weil das immer auch vergänglich ist; dass Jesus in der unsichtbaren Welt Gottes etwas verwirklichen kann, was er als sichtbarer Mensch nicht verwirklichen konnte, nämlich: endlich allen Menschen nahe zu sein, und so weiter: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“ Dieser unendlich wichtige Satz - auch ihn verdanken wir dem „ungläubigen“ Thomas, der so ungläubig gar nicht war.

Schon gar nicht in dieser Ostergeschichte: Es ist doch wohl auch einem gläubigen Menschen erlaubt, nachzufragen! Wer gläubig ist, muss doch noch lange nicht gutgläubig sein oder gar leichtgläubig! Es war im Grunde eine Tugend, dass Thomas nachgehakt hat, als die anderen von der Auferstehung Jesu berichteten. Ehrlich gesagt ist sein Ostererlebnis das, das mich mit am meisten überzeugt: Da ist ein großer Skeptiker, der zunächst nicht glauben kann - und Jesus begegnet ihm, so dass er schließlich an ihn glaubt. Das überzeugt mich.

Thomas hat sogar die Größe, von seiner ursprünglichen Bitte Abstand zu nehmen: Er wollte zunächst doch die Wunde in der Seite Jesu berühren, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen. Im Moment der Begegnung mit Jesus geschieht aber anscheinend in Thomas eine Veränderung: Auf einmal ist es für ihn nicht mehr nötig, Jesus zu berühren. Während er vorher darauf bestand, Jesus zu sehen und ihn zu berühren, ist die Berührung nun für ihn überflüssig geworden. Er bekennt: „Jesus, mein Herr und mein Gott!“ Und in diesem Moment ist es auch dem letzten klar: Thomas ist nicht ungläubig, sondern gläubig. Er hat sich nur erlaubt, nochmal genau nachzufragen. Er wollte es mit Jesus persönlich zu tun haben und nicht mit dem, was andere über ihn sagten.

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Was Thomas schon an sich selbst gespürt hat, dass er die Berührung Jesu nun gar nicht mehr brauchte, das steigert Jesus noch mit diesem Satz: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Thomas, es wird Menschen geben, die werden an Jesus glauben, ohne zu sehen! Denn auch das Sehen ist nicht das Entscheidende. So wie für dich die Berührung Jesu plötzlich überflüssig wurde, so wird für viele das Sehen Jesu einfach überflüssig sein. Sie können auch so glauben. Deine Augen täuschen dich doch so oft, das weißt du nur zu gut. Und vieles von dem, was du siehst, ist nicht wert, dass du daran glaubst, dass du dein Herz daran hängst - weil es in der Regel auch vergänglich ist. Selig wirst du sein, wenn du dein Herz an die unsichtbare Welt Gottes verlierst. Und Jesus wird an jedem Tag bei dir sein, auch wenn du ihn nicht siehst.

Den schlechten Ruf des Apostels Thomas können wir getrost abhaken. Im Gegenteil: Wir sollten uns bei ihm eine Scheibe abschneiden; von seinem Mut, unbequeme Fragen auszusprechen, die sich eigentlich alle stellen, aber die keiner auszusprechen wagt, weil man über die Religion ja ehrfurchtsvoll zu schweigen hat. Ich kann mir viele Situationen vorstellen und erinnern, wo ich geschwiegen habe. Das kann ich von Thomas lernen. Wenn ich zum Beispiel wieder einmal den Eindruck habe, dass jemand die Frage nach dem Sterben und dem was danach kommt geschickt verdrängt. Vielleicht gelingt es mir ja dann, diese unbequeme Frage an seiner Stelle auszusprechen und so zu helfen, eine Antwort zu finden.

Ich lerne von Thomas auch, dass es nicht auf meine Sinne ankommt beim Glauben, weil die mich oft täuschen können. Bei Thomas war es das Befühlen, was ihm selbst schließlich überflüssig schien. Mit dem Sehen ist es nicht anders. Hätte Thomas damals nicht so penetrant nachgefragt, wäre Jesus uns diesen Satz vielleicht für immer schuldig geblieben: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Und ein letztes nehme ich von Thomas mit: Ich habe ihm Unrecht getan, indem ich ihn auf diese eine, noch dazu missverstandene Begebenheit festgelegt habe. Dabei ist er in Wirklichkeit ein Pfundskerl, dessen Ruf einfach im Laufe der Kirchengeschichte beschädigt worden war. Thomas war aber einer, der nicht bereit war, sich von anderen in solche Schablonen pressen zu lassen.

Ich kann mich an einige solche Momente erinnern, wo ich andere auf ihren einen Fehltritt festgelegt habe. Die haben ihren Ruf bei mir weg. Die Geschichte von Thomas stößt mich wieder drauf. Es ist noch nicht zu spät. Ich kann mich aufmachen, und neu die Begegnung mit anderen suchen, damit ich merke: deren schlechter Ruf ist vor allem mein Problem. Ich denke, wir sind dem gläubigen Thomas Dank schuldig. Mehr noch aber unserem Herrn, Jesus Christus, der sich auf solche besonderen, einmaligen, nicht einfach gestrickten Menschen eingelassen hat, gerade weil sie ab und zu den Mut hatten, ins Fettnäpfchen zu treten. Amen.

Pfarrer Henner Eurich, Heidelbach